ch bin – wie alle ehemaligen Austauschschüler – begeistert von dem Jahr, das mir ermöglicht wurde.
Schon mit dem Abflug aus Frankfurt am 6. August 2010 fing das Abenteuer für mich an. Viel mehr als die 13 Stunden Flug, die ungemütlich und langweilig sind und bei denen man nur in absoluten Glücksfällen schlafen kann, jagte mir die andere Kultur und das gebündelte Unbekannte Angst ein, das schon ab den ersten Metern im Flughafen von Buenos Aires auf mich wartete. Obwohl ich mit meiner ersten Ansprechperson, Randy, nur deutsch sprach und obwohl die anderen sechs deutschen Austauschschüler, die er netterweise mitgebracht hatte, mich nett empfingen, war einfach alles anders. Zuerst gab es da diesen Backenkuss, den selbst Randy mir gab und die Frauen sowieso, und dann die beeindruckende Weite der Autobahnen und Landschaften. So fuhren wir bei Beschallung durch Rubber Soul von den Beatles erst einmal um die Stadt herum, bis wir auf die fast kerzengerade Strecke bis nach Santa Fé kamen, die Randy meist auf der Mitte der Fahrbahn zurücklegte.
Nach einer Nacht in einem Hotel holte mich schließlich Luis ab, der den Rest der zehn Monate für mich zuständig war. Er brachte mich und Ourmeline, eine Französin, die ihr Jahr ebenfalls in San Javier verbringen würde, in unsere ersten Gastfamilien. Auf dem Weg probierte ich auch zum ersten Mal den argentinischen Matetee. Er war irgendwie bitter, sah komisch aus und so richtig als Tee identifizierbar war der grüne Aufguss auch nicht. Inzwischen aber nach unzähligen Litern getrunkenen Matetees könnte ich mir die Welt ohne dieses Getränk gar nicht mehr vorstellen.
Als wir in dem 20.000-Seelen-Dorf – als Stadt kann man San Javier wirklich nicht bezeichnen – ankamen, wirkte dann alles noch fremder. Alle Straßen waren quadratisch und sahen gleich aus, und ich sollte mich erst nach einem Monat, vor allem dank des gigantischen Funkturms in der Mitte des Ortes, zurechtfinden. Aber als ich dann meine Gasteltern, Silvia und Sergio, und meine drei Gastbrüder, Augusto, Alberto und Adriano, kennenlernte, war der Stress gleich vergessen. Ab dem ersten Moment wurde ich herzlich aufgenommen und in die Familie integriert. Meine Brüder gehörten über das gesamte Jahr zu meinem engsten Freundeskreis, obwohl ich im Haus der Familie Bode nur vier Monate verbrachte. Das erste Mal, als Augustos Freunde im Haus waren – und das waren sie ab meinem zweiten Tag im Haus fast täglich –, verstand ich nur wenige Wörter und ihr Verhalten war mir fremd, aber ich spürte gleich die Offenheit und das Interesse, das sie mir gegenüber hatten. Diese Offenheit begegnete mir während meines Aufenthalts immer wieder im gesamten Ort. Auch meine Mitschüler in der argentinischen Schule und die Lehrer waren sehr aufgeschlossen und freundlich mir gegenüber. In den ersten Tagen gingen viele Stunden verloren, weil sich alle mit mir unterhalten mussten, was auch dadurch immer besser klappte.
Viele Dinge wurden mir erst allmählich klar, wie zum Beispiel der Sinn des rituellen Fahnenhissens um 7.30 Uhr oder auch die ungeheizten Räume, in denen Ventilatoren en masse hingen, obwohl es gerade mal 10 – 15°C waren. Aber nun weiß ich, dass Argentinier sehr patriotisch sind, was aber – außer auf ganz speziellen Gebieten – nie in Fremdenhass umschlägt. Jedenfalls habe ich nie Ablehnung gegenüber Deutschen erfahren. Und die Ventilatoren waren im Sommer, der Mitte September begann, gar nicht wegzudenken. Der Schulstoff blieb für mich eher im Hintergrund. Da ich nicht viel neuen Stoff entdecken konnte, beschäftigte ich mich während meiner Stunden eher mit dem Erlernen des Spanischen. Bis auf den geschichtlichen Hintergrund Argentiniens und ein paar Stunden Basisunterricht in Psychologie blieb die Schule bis zum Ende eher uninteressant.
So war für mich das Wichtigste, mich mit meinen Freunden zu treffen und die Kultur zwischen Rinderzucht und Strandleben zu entdecken. Denn der Strand am über 100 Meter breiten Fluss, den ich mit meinen Freunden im Sommer mehrere Dutzend mal vor allem schwimmend, aber auch im Fischerboot überquerte, war über den gesamten Sommer, also zwischen September und Februar so etwas wie mein zweites Zuhause. Das alles machte die Zeit in San Javier so lebenswert und so unvergesslich. Außer den Mottos für die Feiern am Wochenende, die typisch argentinisch erst um 2.00 Uhr nachts anfingen und dann um 7.00 Uhr aufhörten, änderte sich nicht viel. Alle meine Gastfamilien haben mich sehr gut behandelt und meine Freunde haben mich nie im Stich gelassen. Bei jedem Konzert, das die Band meiner Brüder gab, war ich selbstverständlich wie ein Bandmitglied dabei und habe so auch den musikalischen Geist der Südamerikaner eingebrannt bekommen. Denn so groß die Dance Music-Stile Cumbia und Reaggeaton dort auch sein mögen, aus vielen Häusern dröhnt noch Tango, Chamamé oder Rock, vor allem Rock nacional, aus den 70ern.
Die Reisen, die ich mit meiner Austauschorganisation, dem Rotary Club, und auch allein gemacht habe, waren in ihrer Schönheit kaum zu überbieten. Sowohl die Patagonienreise, bei der die Fahrt von einem Ort zum nächsten durch die Region La Pampa manchmal mehr als einen Tag im Bus brauchte und bei der wir Gletscher, Pinguine, Wale und Delfine sahen, als auch die Nordreise, die mit den Iguazú-Wasserfällen zu einem der schönsten und beeindruckendsten Orte der Welt führte, waren die 1000 Kilometer Fahrt wert. Denn einen solchen Ausflug, bei dem sich neue weltweite Freundschaften in einer solch rapiden Geschwindigkeit knüpfen, kann man wirklich nur auf diesem Weg erleben.
Zusammenfassend kann ich also sagen: ich habe viel gelernt, viel genossen, viel gesehen, viele neue Leute kennengelernt und viel erlebt. Die Erfahrung, die man aus solch einem Jahr mitnimmt, ist mit nichts zu vergleichen und unbedingt jedem zu empfehlen. Man wird immer die „neue Heimat“ und die „neuen Familien“ etwas vermissen. Aber insgesamt sind die menschlichen Bindungen, die man aufbauen kann, mit nichts zu bezahlen. Also traut euch und macht mal ein Austauschjahr! (Argentinien soll kein schlechtes Ziel sein, habe ich gehört.)
Leon Szymanski